09 Januar, 2021

Ein bunter Strauß von Versäumnissen

Sehr geehrte Frau Eisenmann!

 

Die Corona-Krise hat alle Bereiche unserer Gesellschaft schwer getroffen. Da wir beide in der Bildungsbranche tätig sind, möchte ich mich in diesem offenen Brief auf diesen Bereich beschränken.

Spätestens nach den Fastnachtsferien 2020 deutete es sich an, dass auch die Schulen zur Eindämmung der Pandemie werden schließen müssen und kurz vor den Osterferien war es dann auch soweit. Unsere Schule hatte das Glück innerhalb weniger Tage vollständig auf Fernunterricht umstellen zu können, aber da taten sich schon die ersten Probleme auf: Nicht alle Schüler hatten das notwendige Equipment – wobei sich das als das kleinere Problem herausstellte. Zur Teilnahme am Live-Fernunterricht genügte ein Smartphone – wegen des kleinen Bildschirms zwar nur eine Notlösung aber besser als nichts. Viel größer war das rechtliche Problem. Konnten die verschiedenen digitalen Angebote aus datenschutzrechtlicher Sicht überhaupt genutzt werden? Wie konnte die Mitarbeit der Schülerinnen und Schüler im Fernunterricht bewertet werden? Außerdem war spätestens im April klar, dass Corona nicht über den Sommer verschwinden und uns noch länger beschäftigen würde.

Auf die Schnelle konnte es hier keine befriedigende Lösung geben, Prüfungsordnungen hatten den Vorrang. Man könnte natürlich durchaus darüber diskutieren, ob die Abschlussprüfungen wirklich das Wichtigste waren, das in diesem verlorenen Schuljahr gerettet werden musste, aber das zu entscheiden liegt nun einmal im Kompetenzbereich des Ministeriums und Sie hatten so entschieden.

Als im Mai/Juni dann die Schulen wieder Zug um Zug öffneten, wurden die nächsten Probleme sichtbar. Vorstellbar wären sie bei entsprechend vorhandenem Realitätssinn auch schon vorher gewesen:

·         Der ÖPNV ist zur Einhaltung irgendwelcher Abstands- und Hygieneregeln nicht in der Lage, wenn er zu Stoßzeiten stark ausgelastet ist.

·         Schülerinnen und Schüler sind unbekümmerte Kinder und Jugendliche – Hygieneregeln behandeln sie wie die ganze Schulordnung: Wo kein Lehrer hinsieht, gelten sie nicht.

·         Mit Blick auf den Herbst: Fenster kann man bei 25 Grad Außentemperatur und Sonne beliebig lange offenhalten, bei 5 Grad und Regen ist dies nicht mehr empfehlenswert.

·         Der in dieser Zeit erprobte hybride Unterricht machte noch einmal deutlich, dass die neuen Unterrichtsformen dringend einen rechtlichen Rahmen brauchten, denn nach wie vor konnte Mitarbeit übers Internet nicht bewertet werden.

Und spätestens an diesem Punkt der Entwicklung, zum Teil bereits im April, wurde deutlich: Schülerinnen und Schüler, die auch schon vor Corona keinen echten Bezug zu Schule und Lernen hatten, meldeten sich nun ganz ab. Sofern eigentlich im Präsenzunterricht erwartet, nahmen die Fehlzeiten deutlich zu, wenn über den Fernunterricht zugeschaltet, sah man manche gar nicht mehr. Mal ehrlich: Wer von uns würde regelmäßig arbeiten gehen, wenn es keine Bezahlung dafür gäbe und beim Schwänzen auch keine negativen Konsequenzen zu befürchten sind? Eben. Und jetzt betrachten Sie das Ganze auf der Vernunftsebene eines Jugendlichen. Insofern ist auch klar: Diese auch in normalen Zeiten nur widerwilligen Schülerinnen und Schüler sind uns nicht durch die Schulschließungen verloren gegangen, sondern weil ihnen ein fehlender verpflichtender Rahmen (mit Konsequenzen, wenn er übertreten wird) die Möglichkeit zur risiko- und folgenlosen Schulverweigerung gab.

Ich behaupte: Bei entsprechendem rechtlichem Rahmen und technischer Ausstattung sowohl der Lehrkräfte, wie auch der Schülerinnen und Schüler wäre es möglich, dass Eltern morgens ihre Kinder weckten, als ob diese zur Schule müssten, diese sich nach dem Frühstück an den Computer setzten und unter Aufsicht wechselnder Lehrkräfte (vielleicht könnten sich ja sogar auch die Eltern zwischendurch mal dazwischen schalten, wenn sie das wünschten) am Unterricht teilnähmen (das sind trotz Konjunktiv II keine Hirngespinste, ich habe das auch in dieser freiwilligen Phase bei einer kleinen Schar Schülerinnen und Schülern, die keinen Zwang zum Lernen brauchen, beobachten können!), in den Pausen und außerhalb der Unterrichtszeiten die vorhandene technische Infrastruktur zu zumindest eingeschränkten Sozialkontakten nutzten (wie sie das ja auch schon mit Facebook, WhatsApp und anderen Angeboten tun) und sich dann am Nachmittag wie in normalen Zeiten auch zu Hause selbst versorgten, bis die Eltern von der Arbeit heimkämen und ihr obligatorisches „Wie war’s in der Schule? Hast du alle Aufgaben erledigt?“ aussprächen. Sicher, da wären ganz neue Probleme im Unterrichtsablauf aufgetaucht und es wären auf Schülerseite ganz neue Formen des Schummelns entwickelt worden. Aber auch dafür hätte man letztendlich Regeln und Verfahren gefunden und im Tausch für diesen nicht immer schmerzfreien Lernprozess (auf Schulseite) Unterrichtsmethoden entwickelt, die die Unterrichtsversorgung in besonderen, aber vermutlich gar nicht so selten auftretenden Einzelfällen von erzwungener Abwesenheit auch außerhalb von Pandemiezeiten deutlich verbessert hätte. Mit entsprechendem Weitblick hätte man die Chancen, die sich aus dieser unbefriedigenden Situation ergaben, erkennen und anpacken können.

Ich war mir daher völlig sicher, dass das Kultusministerium all diese Dinge angehen würde, sobald die Prüfungen geregelt sind, also spätestens ab Mitte Juni.

Ziemlich ungläubig betrachtete ich mit vielen anderen die Situation bei Schulöffnung im September.

Es war klar, dass Sie sich über den Sommer keine zusätzlichen Lehrkräfte in der für Klassenteilungen erforderlichen Zahl backen konnten. Es wäre aber möglich gewesen in Kooperation mit dem Verkehrsministerium und den Kommunen ein Schulwegekonzept zu erarbeiten, das ausreichend Busse und Bahnen zur Verfügung stellt, sobald diese bei schlechtem Wetter wieder verstärkt genutzt werden. Es wäre möglich gewesen in Kooperation mit den Schulen und den Kommunen ein Hygienekonzept an Schulen zu erarbeiten, das besser funktioniert, z.B. indem man größere Räume anmietet oder in Containerbauweise errichten lässt, so dass die Abstandsregeln besser eingehalten werden können. Ebenso wäre es möglich gewesen, in Klassenzimmer Anlagen einzubauen, die den Großteil der Aerosole absaugt und die ein Bruchteil teurer Klimaanlagen mit entsprechenden Filtern gekostet hätte. Die Technik war seit Mai bekannt, im Internet veröffentlicht und vom TÜV geprüft. Wäre dies vom Ministerium und den Kommunen frühzeitig unterstützt und gefördert worden, hätten sich vermutlich über die Sommerferien, die ja eh nur sehr eingeschränkt für Urlaub genutzt werden konnten, in vielen Schulen engagierte Eltern zusammengetan und die Teile selbst in die Klassenzimmer ihrer Kinder eingebaut. Es wäre möglich gewesen, den rechtlichen Rahmen für digitalen und hybriden Unterricht zu schaffen, so dass Kinder – wenn schon nicht aus Interesse, so doch wenigstens aus Angst vor den negativen Konsequenzen – regelmäßig von zu Hause aus am Unterricht teilnehmen würden, wenn eine Teilnahme am Präsenzunterricht aus welchen Gründen auch immer nicht möglich war. Auch vom einst angedachten staatlich geförderten Internetzugang für sozial schwache Familien hört man neuerdings nichts mehr. Ja, es hätte überhaupt keines zusätzlichen Beratungs- und Gesetzgebungsaufwandes bedürft, einfach die von den Fachleuten geforderten Regeln und Verfahren im Infektionsfall strikt einzuhalten!

All das haben Sie nicht getan!

Stattdessen ignorierten Sie Virus und Situation und setzten auf offene Schulen und gewohnten Regelunterricht um jeden Preis. Als spätestens im November deutlich wurde, dass die Ausbreitung des Virus einen weiteren Lockdown nötig machen würde und von Fachleuten für den Weiterbetrieb des Präsenzunterrichts noch strengere Regeln gefordert wurden, arbeiteten Sie an Kompromissen und immer weiteren Abschwächungen, bis diese Regeln schließlich völlig unwirksam (da nicht mehr vorhanden) waren. Als dann im Dezember die Letzten merkten, dass das so nicht funktioniert hat und sie die Notbremse ziehen wollten, waren Sie unter der Fraktion, die die Vernünftigen von einer Woche früheren Weihnachtsferien (eigentlich schon viel zu wenig und viel zu spät) auf zwei Tage runter handelten … um dann, noch ehe die Tinte auf dem Papier trocken war, wieder einen Sonderweg zu verordnen, der die Schulen in Baden-Württemberg regulär offenhalten sollte und somit die ohnehin nur marginalen Maßnahmen völlig unwirksam machen würde.

Letzten Endes musste Ministerpräsident Kretschmann Ihre eigenartige und eigenwillige Interpretation der Lage einkassieren. Die Infektionszahlen galoppierten, die Schulen wurden dichtgemacht.

Sie, Frau Eisenmann, hatten hoch gepokert und verloren (wobei es die Bürgerinnen und Bürger sein werden, die die Zeche dafür zahlen müssen). Sie hatten verloren, weil Sie geblufft hatten, das Virus aber nicht.

Ein normaler Mensch würde einsehen, wenn er verloren hat, aber nicht Sie, Frau Eisenmann!

Sie predigen weiterhin die Öffnung der Schulen um jeden Preis. Sie haben in den vergangenen Monaten nichts getan, was uns heute unter den gegebenen Bedingungen einen halbwegs geregelten Unterrichtsbetrieb unter Einsatz aller vorhandenen Möglichkeiten und Minimierung der Risiken möglich machen würde. Um in der Pokersprache zu bleiben: Sie haben nichts in der Hand! Aber Sie tun weiterhin so, als ob es ein Royal Flash wäre. Da aber inzwischen bekannt ist, dass – solange die flächendeckende Impfung der Bevölkerung noch nicht abgeschlossen ist – das Virus alle Asse in der Hand hält, ist jedem klar, dass Sie bluffen! Ist Ihnen in Ihrer Selbstüberschätzung denn wirklich völlig egal, dass Sie längst durchschaut sind? Ist Ihnen nicht klar und auch nicht beizubringen, dass Sie nur noch mit Transparenz und Ehrlichkeit den von Ihnen angerichteten Schaden zumindest auf der gesellschaftlichen, politischen Ebene halbwegs reparieren können?

Untätigkeit und Unfähigkeit im Amt sind Probleme, die man zur Not mit Rücktritt (sei es freiwillig oder erzwungen) korrigieren kann. Unbelehrbarkeit und Fahrlässigkeit sind persönliche, mindestens moralische Vergehen jenseits des Amtes, die auch persönliche Verantwortungsübernahme nach sich ziehen sollten. Natürlich sind Staatsdiener*innen hierbei durch das Gesetz geschützt und das akzeptiere ich, solange diese akzeptieren, dass sie – sobald sie solch ein Amt bekleiden - endgültig aus dem Alter rausgewachsen sind, in dem man die rechtlichen Grenzen immer aufs Neue austestet (zugegebenermaßen auf Ministerialebene ein verbreitets Problem) und auch anerkennen, dass sie in einem Amt sind, das aufgrund der Vorbildfunktion ein solches Verhalten auch nicht erlaubt.

In wenigen Tagen stehen die nächsten Beratungen und Entscheidungen an. Handeln Sie dieses Mal verantwortungsvoll! Verantwortung heißt in Ihrem Fall: Hören Sie auf die Ratschläge auch jener Fachleute, die nicht Ihre Meinung bestätigen. Sortieren Sie die Situation nach folgenden Kriterien:

·         Was können wir nicht kontrollieren; worauf müssen wir deshalb angemessen reagieren, und können auch nur dies tun, weil uns bei verantwortungsbewusstem Handeln gar nichts anderes übrig bleibt? (insbesondere, wenn durch Versäumnisse in der Vergangenheit nun keine besseren Alternativen zur Verfügung stehen – schlechtere finden sich freilich immer!)

·         Welche – sicherlich auch ernsten – Probleme können im Moment verwaltet werden, um sie dann so bald als möglich mit gut überlegten und geeigneten Maßnahmen zu lösen?

·         Welche Probleme sind langfristiger Natur, weisen auf zum Teil weit zurückliegende (also größtenteils von Ihren Vorgängern zu verantwortende) Versäumnisse hin und brauchen deshalb auch ein langfristiges Konzept und entsprechendes, langfristiges und konsequentes Vorgehen?

·         Welche Probleme sind ideologischer Natur? Für diese gibt es keine andere Lösung, als die Ideologien abzuräumen und dann das Problem (so es sich dadurch nicht schon von alleine gelöst hat) in eine der drei vorgenannten Gruppen einzusortieren.

Und dann arbeiten Sie alle drei verbliebenen Bereiche entsprechend derer Natur und nicht entsprechend Ihrer Präferenzen ab! Oder geben Sie das Amt der Kultusministerin ab, damit Ministerpräsident Kretschmann den Posten mit einer Person besetzen kann, die dazu bereit ist.

 

Mit freundlichen Grüßen
G. Doll

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