Sehr geehrte Frau Eisenmann!
Die
Corona-Krise hat alle Bereiche unserer Gesellschaft schwer getroffen. Da wir
beide in der Bildungsbranche tätig sind, möchte ich mich in diesem offenen
Brief auf diesen Bereich beschränken.
Spätestens nach den Fastnachtsferien 2020 deutete es sich an, dass auch die Schulen zur Eindämmung der Pandemie werden schließen müssen und kurz vor den Osterferien war es dann auch soweit. Unsere Schule hatte das Glück innerhalb weniger Tage vollständig auf Fernunterricht umstellen zu können, aber da taten sich schon die ersten Probleme auf: Nicht alle Schüler hatten das notwendige Equipment – wobei sich das als das kleinere Problem herausstellte. Zur Teilnahme am Live-Fernunterricht genügte ein Smartphone – wegen des kleinen Bildschirms zwar nur eine Notlösung aber besser als nichts. Viel größer war das rechtliche Problem. Konnten die verschiedenen digitalen Angebote aus datenschutzrechtlicher Sicht überhaupt genutzt werden? Wie konnte die Mitarbeit der Schülerinnen und Schüler im Fernunterricht bewertet werden? Außerdem war spätestens im April klar, dass Corona nicht über den Sommer verschwinden und uns noch länger beschäftigen würde.
Auf die
Schnelle konnte es hier keine befriedigende Lösung geben, Prüfungsordnungen
hatten den Vorrang. Man könnte natürlich durchaus
darüber diskutieren, ob die Abschlussprüfungen wirklich das Wichtigste waren,
das in diesem verlorenen Schuljahr gerettet werden musste, aber das zu
entscheiden liegt nun einmal im Kompetenzbereich des Ministeriums und Sie
hatten so entschieden.
Als im
Mai/Juni dann die Schulen wieder Zug um Zug öffneten, wurden die nächsten
Probleme sichtbar. Vorstellbar wären sie bei entsprechend vorhandenem
Realitätssinn auch schon vorher gewesen:
·
Der
ÖPNV ist zur Einhaltung irgendwelcher Abstands- und Hygieneregeln nicht in der
Lage, wenn er zu Stoßzeiten stark ausgelastet ist.
·
Schülerinnen
und Schüler sind unbekümmerte Kinder und Jugendliche – Hygieneregeln behandeln
sie wie die ganze Schulordnung: Wo kein Lehrer hinsieht, gelten sie nicht.
·
Mit
Blick auf den Herbst: Fenster kann man bei 25 Grad Außentemperatur und Sonne beliebig
lange offenhalten, bei 5 Grad und Regen ist dies nicht mehr empfehlenswert.
·
Der
in dieser Zeit erprobte hybride Unterricht machte noch einmal deutlich, dass
die neuen Unterrichtsformen dringend einen rechtlichen Rahmen brauchten, denn
nach wie vor konnte Mitarbeit übers Internet nicht bewertet werden.
Und
spätestens an diesem Punkt der Entwicklung, zum Teil bereits im April, wurde
deutlich: Schülerinnen und Schüler, die auch schon vor Corona keinen echten
Bezug zu Schule und Lernen hatten, meldeten sich nun ganz ab. Sofern eigentlich
im Präsenzunterricht erwartet, nahmen die Fehlzeiten deutlich zu, wenn über den
Fernunterricht zugeschaltet, sah man manche gar nicht mehr. Mal ehrlich: Wer
von uns würde regelmäßig arbeiten gehen, wenn es keine Bezahlung dafür gäbe und
beim Schwänzen auch keine negativen Konsequenzen zu befürchten sind? Eben. Und
jetzt betrachten Sie das Ganze auf der Vernunftsebene
eines Jugendlichen. Insofern ist auch klar: Diese auch in normalen Zeiten nur
widerwilligen Schülerinnen und Schüler sind uns nicht durch die
Schulschließungen verloren gegangen, sondern weil ihnen ein fehlender
verpflichtender Rahmen (mit Konsequenzen, wenn er übertreten wird) die
Möglichkeit zur risiko- und folgenlosen Schulverweigerung gab.
Ich
behaupte: Bei entsprechendem rechtlichem Rahmen und technischer Ausstattung
sowohl der Lehrkräfte, wie auch der Schülerinnen und Schüler wäre es möglich,
dass Eltern morgens ihre Kinder weckten, als ob diese zur Schule müssten, diese
sich nach dem Frühstück an den Computer setzten und unter Aufsicht wechselnder
Lehrkräfte (vielleicht könnten sich ja sogar auch die Eltern zwischendurch mal
dazwischen schalten, wenn sie das wünschten) am Unterricht teilnähmen (das sind
trotz Konjunktiv II keine Hirngespinste, ich habe das auch in dieser
freiwilligen Phase bei einer kleinen Schar Schülerinnen und Schülern, die
keinen Zwang zum Lernen brauchen, beobachten können!), in den Pausen und
außerhalb der Unterrichtszeiten die vorhandene technische Infrastruktur zu
zumindest eingeschränkten Sozialkontakten nutzten (wie sie das ja auch schon
mit Facebook, WhatsApp und anderen Angeboten tun) und sich dann am Nachmittag
wie in normalen Zeiten auch zu Hause selbst versorgten, bis die Eltern von der
Arbeit heimkämen und ihr obligatorisches „Wie war’s in der Schule? Hast du alle
Aufgaben erledigt?“ aussprächen. Sicher, da wären ganz neue Probleme im
Unterrichtsablauf aufgetaucht und es wären auf Schülerseite ganz neue Formen
des Schummelns entwickelt worden. Aber auch dafür hätte man letztendlich Regeln
und Verfahren gefunden und im Tausch für diesen nicht immer schmerzfreien
Lernprozess (auf Schulseite) Unterrichtsmethoden entwickelt, die die
Unterrichtsversorgung in besonderen, aber vermutlich gar nicht so selten
auftretenden Einzelfällen von erzwungener Abwesenheit auch außerhalb von
Pandemiezeiten deutlich verbessert hätte. Mit entsprechendem Weitblick hätte
man die Chancen, die sich aus dieser unbefriedigenden Situation ergaben,
erkennen und anpacken können.
Ich war mir
daher völlig sicher, dass das Kultusministerium all diese Dinge angehen würde,
sobald die Prüfungen geregelt sind, also spätestens ab Mitte Juni.
Ziemlich
ungläubig betrachtete ich mit vielen anderen die Situation bei Schulöffnung im
September.
Es war klar,
dass Sie sich über den Sommer keine zusätzlichen Lehrkräfte in der für
Klassenteilungen erforderlichen Zahl backen konnten. Es wäre aber möglich
gewesen in Kooperation mit dem Verkehrsministerium und den Kommunen ein
Schulwegekonzept zu erarbeiten, das ausreichend Busse und Bahnen zur Verfügung
stellt, sobald diese bei schlechtem Wetter wieder verstärkt genutzt werden. Es
wäre möglich gewesen in Kooperation mit den Schulen und den Kommunen ein
Hygienekonzept an Schulen zu erarbeiten, das besser funktioniert, z.B. indem
man größere Räume anmietet oder in Containerbauweise errichten lässt, so dass
die Abstandsregeln besser eingehalten werden können. Ebenso wäre es möglich
gewesen, in Klassenzimmer Anlagen einzubauen, die den Großteil der Aerosole
absaugt und die ein Bruchteil teurer Klimaanlagen mit entsprechenden Filtern
gekostet hätte. Die Technik war seit Mai bekannt, im Internet veröffentlicht
und vom TÜV geprüft. Wäre dies vom Ministerium und den Kommunen frühzeitig unterstützt
und gefördert worden, hätten sich vermutlich über die Sommerferien, die ja eh
nur sehr eingeschränkt für Urlaub genutzt werden konnten, in vielen Schulen
engagierte Eltern zusammengetan und die Teile selbst in die Klassenzimmer ihrer
Kinder eingebaut. Es wäre möglich gewesen, den rechtlichen Rahmen für digitalen
und hybriden Unterricht zu schaffen, so dass Kinder – wenn schon nicht aus
Interesse, so doch wenigstens aus Angst vor den negativen Konsequenzen –
regelmäßig von zu Hause aus am Unterricht teilnehmen würden, wenn eine
Teilnahme am Präsenzunterricht aus welchen Gründen auch immer nicht möglich
war. Auch vom einst angedachten staatlich geförderten Internetzugang für sozial
schwache Familien hört man neuerdings nichts mehr. Ja, es hätte überhaupt
keines zusätzlichen Beratungs- und Gesetzgebungsaufwandes bedürft, einfach die
von den Fachleuten geforderten Regeln und Verfahren im Infektionsfall strikt
einzuhalten!
All das
haben Sie nicht getan!
Stattdessen
ignorierten Sie Virus und Situation und setzten auf offene Schulen und
gewohnten Regelunterricht um jeden Preis. Als spätestens im November deutlich
wurde, dass die Ausbreitung des Virus einen weiteren Lockdown nötig machen
würde und von Fachleuten für den Weiterbetrieb des Präsenzunterrichts noch strengere
Regeln gefordert wurden, arbeiteten Sie an Kompromissen und immer weiteren
Abschwächungen, bis diese Regeln schließlich völlig unwirksam (da nicht mehr vorhanden)
waren. Als dann im Dezember die Letzten merkten, dass das so nicht funktioniert
hat und sie die Notbremse ziehen wollten, waren Sie unter der Fraktion, die die
Vernünftigen von einer Woche früheren Weihnachtsferien (eigentlich schon viel
zu wenig und viel zu spät) auf zwei Tage runter handelten … um dann, noch ehe
die Tinte auf dem Papier trocken war, wieder einen Sonderweg zu verordnen, der
die Schulen in Baden-Württemberg regulär offenhalten sollte und somit die
ohnehin nur marginalen Maßnahmen völlig unwirksam machen würde.
Letzten
Endes musste Ministerpräsident Kretschmann Ihre eigenartige und eigenwillige
Interpretation der Lage einkassieren. Die Infektionszahlen galoppierten, die
Schulen wurden dichtgemacht.
Sie, Frau
Eisenmann, hatten hoch gepokert und verloren (wobei es die Bürgerinnen und
Bürger sein werden, die die Zeche dafür zahlen müssen). Sie hatten verloren,
weil Sie geblufft hatten, das Virus aber nicht.
Ein normaler
Mensch würde einsehen, wenn er verloren hat, aber nicht Sie, Frau Eisenmann!
Sie predigen
weiterhin die Öffnung der Schulen um jeden Preis. Sie haben in den vergangenen
Monaten nichts getan, was uns heute unter den gegebenen Bedingungen einen
halbwegs geregelten Unterrichtsbetrieb unter Einsatz aller vorhandenen
Möglichkeiten und Minimierung der Risiken möglich machen würde. Um in der
Pokersprache zu bleiben: Sie haben nichts in der Hand! Aber Sie tun weiterhin
so, als ob es ein Royal Flash wäre. Da aber inzwischen bekannt ist, dass –
solange die flächendeckende Impfung der Bevölkerung noch nicht abgeschlossen
ist – das Virus alle Asse in der Hand hält, ist jedem klar, dass Sie bluffen!
Ist Ihnen in Ihrer Selbstüberschätzung denn wirklich völlig egal, dass Sie längst
durchschaut sind? Ist Ihnen nicht klar und auch nicht beizubringen, dass Sie
nur noch mit Transparenz und Ehrlichkeit den von Ihnen angerichteten Schaden
zumindest auf der gesellschaftlichen, politischen Ebene halbwegs reparieren
können?
Untätigkeit
und Unfähigkeit im Amt sind Probleme, die man zur Not mit Rücktritt (sei es
freiwillig oder erzwungen) korrigieren kann. Unbelehrbarkeit und Fahrlässigkeit
sind persönliche, mindestens moralische Vergehen jenseits des Amtes, die auch
persönliche Verantwortungsübernahme nach sich ziehen sollten. Natürlich sind
Staatsdiener*innen hierbei durch das Gesetz geschützt und das akzeptiere ich,
solange diese akzeptieren, dass sie – sobald sie solch ein Amt bekleiden -
endgültig aus dem Alter rausgewachsen sind, in dem man die rechtlichen Grenzen
immer aufs Neue austestet (zugegebenermaßen auf Ministerialebene ein
verbreitets Problem) und auch anerkennen, dass sie in einem Amt sind, das
aufgrund der Vorbildfunktion ein solches Verhalten auch nicht erlaubt.
In wenigen
Tagen stehen die nächsten Beratungen und Entscheidungen an. Handeln Sie dieses
Mal verantwortungsvoll! Verantwortung heißt in Ihrem Fall: Hören Sie auf die
Ratschläge auch jener Fachleute, die nicht Ihre Meinung bestätigen. Sortieren
Sie die Situation nach folgenden Kriterien:
·
Was
können wir nicht kontrollieren; worauf müssen wir deshalb angemessen reagieren,
und können auch nur dies tun, weil uns bei verantwortungsbewusstem Handeln gar
nichts anderes übrig bleibt? (insbesondere, wenn durch Versäumnisse in der
Vergangenheit nun keine besseren Alternativen zur Verfügung stehen –
schlechtere finden sich freilich immer!)
·
Welche
– sicherlich auch ernsten – Probleme können im Moment verwaltet werden, um sie
dann so bald als möglich mit gut überlegten und geeigneten Maßnahmen zu lösen?
·
Welche
Probleme sind langfristiger Natur, weisen auf zum Teil weit zurückliegende
(also größtenteils von Ihren Vorgängern zu verantwortende) Versäumnisse hin und
brauchen deshalb auch ein langfristiges Konzept und entsprechendes,
langfristiges und konsequentes Vorgehen?
·
Welche
Probleme sind ideologischer Natur? Für diese gibt es keine andere Lösung, als
die Ideologien abzuräumen und dann das Problem (so es sich dadurch nicht schon
von alleine gelöst hat) in eine der drei vorgenannten
Gruppen einzusortieren.
Und dann
arbeiten Sie alle drei verbliebenen Bereiche entsprechend derer Natur und nicht
entsprechend Ihrer Präferenzen ab! Oder geben Sie das Amt der Kultusministerin ab,
damit Ministerpräsident Kretschmann den Posten mit einer Person besetzen kann, die
dazu bereit ist.
Mit
freundlichen Grüßen
G. Doll
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